Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Richterinnen und Richter

Herzlichen Dank der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter für die Einladung. Es ist mir eine Freude, den «Tag der Richterinnen und Richter» zu eröffnen.

Vor allem freue ich mich, Sie kennenzulernen. Bis jetzt waren Sie für mich im wahrsten Sinn des Wortes «fremde Richter» - und Richterinnen. Und ich für Sie ein fremder Justizminister. Es ist schön, können wir das heute ändern. Wobei: Ein bisschen fremdeln müssen wir - denken Sie an die Gewaltenteilung! Und doch haben wir viel gemeinsam: Wir verkörpern den Rechtsstaat und unsere Institutionen.

Wir tun dies in einer unruhigen, unübersichtlichen Zeit. Mit der künstlichen Intelligenz steht uns eine grosse technologische Umwälzung bevor - vielleicht die grösste überhaupt. Auch politisch stehen die Zeichen auf Sturm: Sogar in stabilen und traditionsreichen Demokratien haben autokratische Bewegungen und Ideen plötzlich Rückenwind.

Plötzlich merken wir wieder: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind niemals selbstverständlich. Sie müssen verteidigt und immer wieder neu erkämpft werden. Wir müssen für die Meinungsfreiheit, für den Schutz von Minderheiten und für gesellschaftliche Errungenschaften einstehen. Sie sind ein zentraler Pfeiler der Demokratie - auch unserer Demokratie. Wir müssen uns auf das Rückgrat einer funktionierenden Demokratie besinnen: Institutionen, die Vertrauen schaffen und geniessen. Dazu gehören in der Schweiz das Parlament und der Bundesrat, die freien Medien und die Zivilgesellschaft. Aber auch unsere Verfassung, der Rechtsstaat.

Die Bundesverfassung, meine Damen und Herren, ist auch meine Richtschnur. Ihr und damit unserem Rechtsstaat und seinen Institutionen fühle ich mich als Bundesrat und als Justizminister verpflichtet: Ich bin ein Verfassungspatriot. Darum ist es mir wichtig, dass Ihre Unabhängigkeit als Richterinnen und Richter geschützt und garantiert ist. Denn ihre Arbeit ist für die Rechtsstaatlichkeit absolut zentral. Sie verteidigen die Grundrechte und sichern damit das Vertrauen der Menschen in unseren Rechtsstaat. Und sollte der Gesetzgeber versuchen die Grundrechte unverhältnismässig einzuschränken, sind Sie der Schutzschild für jede und jeden von uns. Checks and Balances, nennen das die Amerikaner.

Ich weiss, der Ton ist rauer geworden, das spürt auch der Bundesrat. Gerade in der letzten Woche konnten Sie lesen, dass das Vertrauen in die Regierung abgenommen hat. Dem Bundesrat geht es gleich, wie anderen Institutionen auch. Auch Sie als Richterinnen und Richter stehen immer wieder in der Kritik. Kurz gesagt: Ihre Arbeit war auch schon einfacher. Aber wissen Sie was? Ihre Arbeit war noch selten wichtiger!

Car la démocratie, les droits humains et l'état de droit sont pour nous des valeurs fondamentales. L'idée de la liberté et de l'égalité de tous les êtres humains fait également partie de l'ADN de la Suisse. En ces temps de polarisation et de crises mondiales, nous devons rester vigilants et défendre nos acquis.

Dabei, geschätzte Richterinnen und Richter, zähle ich auf Sie alle.

Warum stehen auch gefestigte Demokratien auf einmal so unter Druck? Nach dem Ende des Kalten Krieges waren wir alle überzeugt, dass der freiheitliche Menschen-Rechts-Staat die einzig richtige und eigentlich auch die einzig mögliche Staatsform ist. Jetzt merken wir, dass dem nicht so ist.

Warum haben autoritäre Systeme Aufwind? Für Anne Applebaum - sie ist Historikerin und Osteuropaspezialistin - liegt das vor allem an der verlockenden Einfachheit von autoritären Bewegungen: Sie versprechen einfache Lösungen für komplizierte Probleme. Sie vermitteln allen, die Mühe mit der Ideenvielfalt westlicher Demokratien haben, ein Gefühl der Sicherheit. Sie schwärmen von den «guten alten Zeiten» und appellieren an Gefühle, Instinkte - und den Nationalstolz. Sie verhöhnen politische Gegner, betreiben Desinformation und verschieben Grenzen des Sagbaren. Sie schwächen die Institutionen und rütteln damit am Fundament des demokratischen Rechtsstaats.

Ein Beispiel ist die sogenannte «Neue Rechte». Sie ist alles andere als konservativ: Sie will das Bestehende nicht bewahren, sondern Demokratie und Rechtsstaat zerstören. So analysiert es Anne Applebaum. Wenn politische Gegner zu Feinden werden, wenn ganze Bevölkerungsgruppen abgewertet werden, dann führt das zu einer Entmenschlichung der Politik - und zu einer grossen Belastung für das Miteinander in der Gesellschaft.

Und in der Schweiz? In der Schweiz sind wir von einer solchen Entwicklung bis jetzt noch weitgehend verschont geblieben. Aber Ansätze dazu gibt es auch bei uns. Die Bedrohung kommt auch von aussen: Erkenntnisse des Nachrichtendienstes zeigen, dass Russland auch bei uns versucht, Einfluss zu nehmen. Und rechtsextreme Gruppierungen probieren auch bei uns, autoritäre Ideen einzubringen. Wir müssen wachsam sein.

Zum autoritären Gedankengut gehört auch die Ablehnung von Minderheiten - in sozialen Netzwerken etwa, oder auch im Sportstadion. Das dürfen wir nicht akzeptieren: Gemäss Umfragen anerkennen 6 von 10 Personen Rassismus als Problem, das angegangen werden muss. Der Anti-Diskriminierungsartikel im Strafgesetzbuch wurde vom Stimmvolk zweimal angenommen. Die deutliche Mehrheit lehnt Rassismus und Diskriminierung ab.

Die Staatsanwaltschaften und Gerichte spielen bei diesem Thema eine ganz wichtige Rolle. Lassen Sie mich einen aktuellen Leitentscheid des Bundesgerichts hervorheben: Es geht um den Schuldspruch gegen einen Mann. Er hatte sich öffentlich und in strafbarer Weise über eine Journalistin und die lesbische Community geäussert. Das Bundesgericht hat den Schuldspruch bestätigt und sich dabei auf den Anti-Diskriminierungsartikel berufen: Die Äusserungen des Mannes seien ein Aufruf zu Hass aufgrund der sexuellen Orientierung und nicht durch die Meinungsäusserungsfreiheit geschützt.

Dieses Urteil setzt ein Signal gegen Hass und Homophobie und für ein respektvolles und diskriminierungsfreies Miteinander. Und es zeigt, dass die Gerichte bei der Diskriminierungsfrage einen strengen Massstab anlegen.

Natürlich: Das Strafgesetzbuch ist die letzte Verteidigungslinie. Wir dürfen die Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung nicht allein den Strafverfolgungsbehörden überlassen. Auch die Regierungen von Bund und Kantonen tragen Verantwortung und müssen ihren Beitrag leisten. Unsere Aufgabe ist vor allem die Prävention und Sensibilisierung der Bevölkerung. Diese Aufgabe nimmt der Bundesrat in seinem Zuständigkeitsbereich sehr ernst.

Dazu ein aktuelles Beispiel: Wir mussten feststellen, dass in der Armee jede zweite Frau und viele homosexuelle Männer sexuell belästigt werden. Für den Bundesrat ist das inakzeptabel. Es braucht einen Kulturwandel. Die Armee hat deshalb einen umfassenden Plan zur Prävention und Sensibilisierung lanciert. Für Diskriminierung und sexualisierte Gewalt gilt Null-Toleranz. Das Beispiel zeigt, dass auch der Bund seine Hausaufgaben machen muss.

Gerichtsurteile bieten der Politik wertvolle Einsichten. Sie dienen als Orientierung, um Lehren für die Zukunft zu ziehen. Deshalb sprechen wir von «Leitentscheiden»: Es sind Wegweiser für die Weiterentwicklung unseres Rechts.

Une bonne démocratie demande une culture sérieuse de l'apprentissage et de l'erreur. Le contrôle de constitutionnalité par les tribunaux est un élément essentiel de cette culture, qui nous aide à rester flexible et à nous renouveler. C'est un grand avantage par rapport aux régimes autoritaires : chez nous, les trois pouvoirs peuvent apprendre les uns des autres.

Meine Damen und Herren

Zum Instrumentarium des Rechtsstaates gehören nicht nur die Menschenrechte und die Möglichkeit, diese durchzusetzen. Auch die Verfassungskontrolle ganz generell gehört dazu: Die Möglichkeit, zu überprüfen, ob ein Erlass mit der Verfassung vereinbar ist.

Die wichtige Rolle der gerichtlichen Verfassungskontrolle habe ich angesprochen. Im zweiten Teil meines Referats möchte ich auf eine Ausprägung der Verfassungskontrolle eingehen, die Ihnen im beruflichen Alltag vermutlich weniger nah ist: die präventive Rechtskontrolle. Auf eidgenössischer Ebene ist dafür in erster Linie «mein» Bundesamt für Justiz zuständig.

Das Rechtssetzungsverfahren auf Bundesebene sieht nämlich vor, dass Entwürfe von Gesetzen und Verordnungen der Fachämter verwaltungsintern geprüft werden. Diese präventive Rechtskontrolle findet systematisch statt, bevor der Bundesrat die Vorlage an das Parlament überweist. Auch im parlamentarischen Verfahren ist eine Überprüfung möglich: Wenn es die vorberatende Kommission oder das zuständige Departement wünschen, kommt das Bundesamt für Justiz ins Spiel: Es prüft dann, ob die Änderungen der Erlasse mit der Verfassung und dem Völkerrecht konform sind.

Die präventive Rechtskontrolle sorgt dafür, dass neue Rechtsnormen mit dem Bundesrecht und dem Völkerrecht in Einklang stehen und sich gut in die bestehende Rechtsordnung einfügen. Es sollen keine Widersprüche zu den Menschenrechten und den verfassungsmässigen Rechten entstehen. Auch der Schutz des Kompetenzbereichs der Kantone, die Zuständigkeit des Parlaments und die Volksrechte sind Gegenstand dieser Kontrolle.

Der Bundesrat hat dieses System vor einigen Jahren überprüft. Grundsätzlich hat es sich bewährt:

Zu den Stärken gehört die partnerschaftliche Begleitung. Idealerweise redet man miteinander, bis man eine tragfähige Lösung gefunden hat. Das ist im Sinne einer flexiblen und lösungsorientierten Rechtskontrolle. Dabei wird doppelt kontrolliert: Ein erstes Mal vor dem Vernehmlassungsverfahren und ein zweites Mal vor der Verabschiedung von Botschaft und Entwurf durch den Bundesrat. Besonders wichtig ist, dass die Überprüfung nicht nur punktuell erfolgt. Sie geschieht systematisch für sämtliche Erlasse des Bundes. Das unterscheidet sie auch von der gerichtlichen Verfassungskontrolle.
Es wurden aber auch Schwachstellen erkannt: Das verwaltungsinterne Verfahren kennt enge Fristen, die Prüfenden arbeiten unter Zeitdruck. Das erschwert die sorgfältige Prüfung. Und es gibt Lücken: Es kann nämlich vorkommen, dass Anträge, die erst während der Beratung im Bundesrat oder im Parlament eingebracht werden, nicht auf ihre Rechtmässigkeit überprüft werden.

Der Bundesrat hat Massnahmen umgesetzt, um die präventive Rechtskontrolle zu optimieren und transparenter zu machen:

In den Unterlagen, die dem Bundesrat für einen Entscheid vorgelegt werden - im Bundesratsantrag - müssen alle rechtlichen Differenzen ausgewiesen werden. Nur so kann der Bundesrat die Gesamtverantwortung wahrnehmen.
In den Botschaften des Bundesrates zu Erlassentwürfen müssen kontroverse Rechtsausfassungen konzis dargestellt und gewürdigt werden. Die Offenlegung hilft dem Parlament bei der Versachlichung der Debatte.

Mit diesen Optimierungsmassnahmen soll sichergestellt werden, dass das Parlament en connaissance de cause entscheiden kann. Wichtig ist dabei, dass das Parlament das letzte Wort hat - und eben nicht ein Gericht.

Le Conseil fédéral a étudié d'autres solutions que le contrôle préventif de la conformité au droit. Notamment l'idée d'une instance judiciaire - par exemple le Tribunal fédéral - qui évaluerait systématiquement les projets d'actes normatifs du Conseil fédéral et du Parlement. Comme le fait, en France, le Conseil d'État, un corps d'experts juridiques. Cette idée a cependant été rejetée, parce qu'elle n'est pas compatible avec notre démocratie référendaire.

Geschätzte Richterinnen und Richter

Die präventive Rechtskontrolle begleitet viele Stationen im Gesetzgebungsprozess. Damit ist sie eine wichtige Ergänzung zur Verfassungskontrolle durch die Gerichte, die auf Einzelfälle beschränkt ist. Das schmälert die Bedeutung Ihrer richterlichen Tätigkeit aber überhaupt nicht - ganz im Gegenteil: Die präventive Rechtskontrolle stärkt die Verfassung, beugt Widersprüchen in der Rechtssetzung vor und erleichtert damit auch Ihnen das Leben.

Ihr Einsatz für die Verteidigung der verfassungsmässigen Rechte ist für das Vertrauen der Menschen in unseren Rechtsstaat zentral. Dafür danke ich Ihnen herzlich. Sie sind der Schutzschild für jede und jeden von uns - gegen Willkür, Unterdrückung und Machtmissbrauch.

Sie alle machen sich Tag für Tag für unsere Verfassung sowie die Grund- und Menschenrechte stark. So wie ich. Mir ist wichtig, dass wir die Gewaltenteilung nicht falsch verstehen: Legislative, Exekutive und Judikative sind unabhängig und kontrollieren sich gegenseitig. Voneinander zu lernen, ist deswegen aber nicht verboten - im Gegenteil. Denn der Rechtsstaat, das sind wir alle: Das Parlament, der Bundesrat und die Verwaltung, Sie als Richterinnen und Richter und alle Bürgerinnen und Bürger.

Der Rechtsstaat, das sind wir alle. In keinem Land ist das so wahr wie in der Schweiz.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.